Mit der Flut steigen alle Schiffe hoch und
der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!
Beruflich werde ich immer wieder darauf angesprochen, wie man eine Begabung bzw. Hochbegabung eindeutig erkennt bzw. ob das eigene Kind hochbegabt ist und zudem ob eine Schule verpflichtet ist, Begabungen zu fördern.
In diesen Gesprächen mit Eltern bzw. dem Elternbeirat, Lehrkräften oder auch der Schulleitung erstaunt mich immer wieder, wie hoffnungsvoll meine Gesprächspartner ihre Blicke auf potenzielle Begabungen der Kinder richten, doch nur selten auf ihre eigenen Begabungen und Talente schauen. Obwohl in der Begabungsforschung bereits nachgewiesen wurde, dass Begabung und Höchstbegabung genetisch bzw. familiär mitbedingt sind:
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Das bedeutet für Sie, dass auch Sie begabt sind; was Ihnen vielleicht bisher als Overachiever – z.B. indem sie perfektionistisch und übereifrig alles optimal gelingend zu gestalten und zu erfüllen versuchen – oder auch als Underachiever – z.B. indem Sie Ihre Fähigkeiten und Talente unter den Scheffel stellen bzw. sogar verweigern – noch nicht bewusst geworden ist. Zumal begabende Bezugspersonen im Elternhaus, Kindergarten und in der Schule eine wesentliche Schlüsselrolle jeglicher Begabungsförderung innehaben. Deshalb empfehle ich Ihnen, eigene innewohnend kostbare Fähigkeiten, Begabungen und Talente für sich selbst anzuerkennen, um aus dieser Lebensperspektive auch bei Ihren Kindern bzw. Schülern „Talente und Begabungen“ erkennen zu können:
Denn mit der Wasserflut steigen alle Schiffe zusammen hoch.
Diesen Kontext möchte ich für Sie und alle Kinder zuerst als Kurzfassung thematisieren und Ihnen nachfolgend die gesetzlichen Grundlagen sowie einige wissenschaftliche Erkenntnisse als Erfahrungswissen von Begabungsförderung sowie Begabtenförderung zusammenstellen.
Häufig gestellte Fragen zur Begabungsförderung in Kurzfassung
Ist Begabungsförderung schon für Grundschulen gesetzlich vorgegeben? JA
Im Laufe des Bildungsauftrages entwickelte sich das Interesse an allgemeiner Begabungsförderung und spezieller Begabtenförderung, die als Teilbereich davon angesehen wird. Wobei die Erkenntnisse der Begabungsforschung erst in den letzten Jahren an Schulen bzw. an Grundschulen angekommen sind. Zunehmend werden auch für Grundschulen Fachfortbildungen zur Begabungsförderung angeboten. Zuvor wurde das Wissen zur Begabungsförderung bevorzugt an sogenannte Projektschulen, meist Gymnasien, gegeben. In Deutschland gibt es inzwischen mehrere dieser Projektschulen, wo im Gymnasium ab der 5. Jahrgangsstufe Spezialklassen für besonders begabte Schülerinnen und Schüler angeboten werden – beispielhaft in Bayern zusammen mit der Karg Stiftung, eVocation oder dem Bayerischen Staatsministerium für Bildung, Kultur, Wissenschaft und Kunst.
Ist es sinnvoll eine allgemeine Begabungsförderung zielgerichtet durchzuführen? JA
Die grundlegenden Inhalte der Begabungsförderung orientieren sich an den jüngsten Erkenntnissen der Lernforschung (wie lernen Kinder), der Gehirnforschung (wie verlaufen Lernprozesse) und der Entwicklungspsychologie (was motiviert zum Lernen). In der Grundschulzeit wird das Lernverhalten von Kindern strukturiert und eintrainiert. Untersuchungen dazu ergaben, dass die Mehrheit vor Schulbeginn getesteter Kinder, die eine Begabung oder sogar Hochbegabung aufwiesen, diese kurz nach Eintritt in weiterführende Schulen – man vermutet aus Leistungsdruck/Stress und mangelnder Fokussierung – verloren hatten. Schon deshalb ist es für eine engagierte Grundschule wesentlich, dem Lehrkörper bzw. Elternbeirat eine grundlegende Begabungsförderung nahe zu bringen.
Gibt es Hinweise für Lehrkräfte Begabte bzw. Hochbegabte zu erkennen? JA
Erste Hinweise auf begabte bzw. hochbegabte Kinder können schon im Kindergarten bzw. Vorschule entstehen, zumal auch interessierte Eltern von sich aus Testergebnisse und Belege über besondere Fähigkeiten ihrer Kinder mitbringen. In der Grundschule können die persönliche Irritation der Lehrkraft über verhaltensauffällige Kinder bzw. Erzählungen der Mitschüler auf Begabungen einzelner Schüler hinweisen. Bei gezielter Einführung einer grundlegenden Begabungsförderung werden Begabungen bzw. Teilbegabungen sowie Hochbegabungen von geschulten Lehrkräften meist schon konkret erahnt oder sogar definitiv erkannt.
Können begabte/hochbegabte Kinder neben durchschnittlich Begabten auffallen? JA
Neben den Kindern, deren Talente bereits durch überdurchschnittliche sportliche/musische/mathematisch-logische usw. Leistungen sichtbar auffallen, gibt es auch die noch „unentdeckten Kinder“ mit begabungsrelevanten Dispositionen. Oftmals wirken diese begabten Kinder eher gelangweilt neben Gleichaltrigen, spielen bzw. interessieren sich für Sachen, für die sie eigentlich zu jung scheinen. Sie wollen meist mehr zu einem Thema erforschen als im normalen Schulkontext angeboten wird, arbeiten gerne selbstständig, erfassen Ursache-Wirkungen schneller als Gleichaltrige, haben zu einem Thema oftmals einen altersunüblichen Wissens- oder Wortschatz, sind eher intrinsisch motiviert und meist gelangweilt von Wiederholungen bzw. Routineaufgaben. Zeitweise übernehmen sie die Rolle des Klassenkasper oder tauchen manchmal tief in ihre eigene Welt ein und ab. Gerne streben sie selbstkritisch nach Perfektion oder hinterfragen sehr sensibel existenzielle Zusammenhänge usw. Der wesentliche Fokus liegt dabei auf der begeisterten und begabenden Haltung einer interessierten Bezugsperson dieser Kinder/Schüler, damit sie im Schutzraum von Forderung und Förderung ihr Potenzial zu offenbaren beginnen.
Besteht ein Unterschied zwischen Begabungsförderung und Begabtenförderung? JA
In den meisten Schulen wird – soweit Begabungen und Talentförderung im Leitbild der Schule beinhaltet ist – eine allgemeine Begabungsförderung angeboten, die sich an alle Kinder richtet. Diese allgemeine Begabungsförderung geht von der Prämisse aus, dass jedes Kind seine Potenziale hat, die es bei entsprechender individueller Förderung entwickeln kann.
Hingegen wendet sich eine spezielle Begabtenförderung gezielt an die als „begabt/hochbegabt“ ausgewiesenen Kinder. Im Rahmen der normalen Begabtenförderung werden die Kinder, die den intellektuell messbaren Grenzwert ab einem IQ von 115 nachweisen können bzw. im sportlichen/musischen/naturwissenschaftlichen Bereich auffallen, schulisch als „begabt bzw. hochbegabt“ definiert und bei entsprechenden schulischen Möglichkeiten gefördert.
Kann die Begabung von Kindern schon im Kleinkindalter gefördert werden? JA
Im Kindergarten, aber auch in gesunden Familien, ist ein umgreifendes Verständnis für die Lernentwicklung vom Kleinkind zum Schulkind vorhanden, weshalb der natürlichen Forderung des Kindes nach einem „spielerischen“ Bewegungsspiel die kindgerechte Raum-Zeit gegeben wird. Denn ein Kind tritt durch die Bewegung in den Dialog mit der Umwelt ein und erfährt dadurch – auch – Begabungsförderung. Kinder brauchen zur optimalen Entfaltung ihrer Fähigkeiten eine bewegungsreiche, spielerische und wertschätzende soziale Interaktion sowie eine anregende Lernumgebung. Wesentlich dabei ist die soziale und familiäre Zugehörigkeit, die Hüther (2009) mit der Formulierung einer „ressourcenorientierten Beziehungskultur“ charakterisiert.
Hat die familiäre und schulische Umgebung Einfluss auf begabte Kinder? JA
Wie Stangl (2019) anmerkte ist Hochbegabung/Talent nicht ein Charakterzug, sondern die Disposition für herausragende Leistungen und deshalb nicht die Hochleistung selber: „Eine Hochbegabung setzt sich zusammen aus sehr guter Motivation, Kreativität und überdurchschnittlichen Fähigkeiten auf einem oder mehreren Gebieten. Sie kann nur unter bestimmten Umständen zu Höchstleistungen führen. Familie, Kindergärten, Schulen müssen Bedingungen schaffen, in denen besonders begabte Kinder und Jugendliche sich ihrer Begabung entsprechend entwickeln können. Es sind also meist weit überdurchschnittliche Fähigkeiten und Interessen, die hochbegabte Kinder kennzeichnen, wobei sie Gleichaltrigen auf Gebieten, wie den logisch-mathematischen, den sprachlichen, den musikalischen, den bildnerisch-künstlerischen, den sportlichen oder den sozialen Bereichen deutlich voraus sind. Der Anteil, den Erbanlagen zu Intelligenzunterschieden zwischen Menschen beitragen, wird auf fünfzig bis sechzig Prozent geschätzt, sodass eine Hochbegabung teilweise immer auch genetisch mitbedingt ist, wobei der übrige Anteil auf Einflüsse der Umwelt zurückzuführen ist. Aus Studien weiß man, dass diese Anteile der Vererbung nicht in allen Lebensabschnitten gleich groß sind, denn bei Kindern und Jugendlichen hat die Umwelt einen höheren Einfluss, der aber im Lauf der Entwicklung immer weiter zurücktritt, sodass sich der genetische Einfluss immer stärker durchsetzt.“
Können auch enorm interessierte Kinder begabungsrelevante Leistungen erbringen? JA
Kinder und Jugendliche können im familiären oder schulischen Kontext nicht nur als begabt, sondern auch hochbegabt eingeschätzt werden, auch wenn dies nicht der messbaren Faktenlage (z.B. IQ Testung) entspricht. Dies wird in der Fachsprache als mögliches „Overachievement“ gewertet. Als sogenannte „Übererfüller“ kommen diese erbrachten Leistungen weniger durch einen hohen Intelligenzquotienten zustande, sondern durch das Vorhandensein z. B. phantasievoller Kreativität, emotionaler Intelligenz, praktischer Intelligenz, berufenes Interesse oder auch durch hartes Training und besonderen Fleiß. Eine Studie (Lechner et al., 2019) zeigt: „… dass jene SchülerInnen die höchsten Lernerfolge dann erzielen, wenn sie sowohl intelligent als auch interessiert sind, d. h., Intelligenz und Interesse befördern einander. Dabei erzielen jene SchülerInnen die besten Lernerfolge, die besonders intelligent sind, aber auch diejenigen, die besonders interessiert sind“ (Stangl, 2019).
Können Eltern und Lehrkräfte begabungsfördernd wirken? JA
Begabend wirken familiäre Bezugspersonen bzw. Lehrkräfte schon dann, wenn diese dem Kind zuverlässig vermitteln, dass es als sinnbildliches „Geschenk des Himmels“ geliebt ist und immer zugehörig bleibt, auch wenn das Tun des Kindes in einer bestimmten Situation nicht angemessen ist (z.B. andere Kinder schlagen, Schimpfworte sagen, Trödeln usw.).
Jeder Mensch hat erlernte Vorstellungen und Deutungen für seine Umwelt. Deshalb gilt es auch für Eltern und Lehrkräfte persönlich zu prüfen, welche begrenzenden Vorstellungen oder überholten Glaubenssätze darüber „wie ein Kind ist und zu sein hat“ sie selbst verinnerlicht haben, bevor sie diese ungeprüft als Beurteilung und Bewertung an Kinder bzw. Schüler weitergeben.
Da 90% aller Eindrücke visuell vom Auge aufgenommen werden, erleben Kinder die Hand-Augen-Koordination gefühlsmäßig synchron oder asynchron zu den ausgesprochenen Worten, vor allem bei einer Bezugsperson. Deshalb aktiviert eine eindeutige Körpersprache in wohlwollende Ansprache die optimale Lernbereitschaft eines Kindes und stellt die Grundlage einer Begabungsförderung dar.
Kinder stellen pro Tag wissenschaftlich erwiesen ca. 400 Fragen. Erwachsene Menschen denken pro Tag ca. 60.000 Gedanken, wovon nur 3% wirklich für das eigene Wohlergehen gedacht werden, da die restlichen 97% negative bzw. bedeutungslose Gedanken sind. Demzufolge ist es enorm wichtig, Lerninhalte und Anweisungen einfach und zielgerichtet zu verkörpern und konsequent vorzuleben.
Wenn Kinder erkennen können, worauf Lerninhalte abzielen, wird ihr Potenzial von Wahrnehmung und Verständnis intensiviert. Das erhöht die Lernbereitschaft, da die Blickrichtung des Kindes auf die Zielvorstellung gerichtet ist. Die Aufmerksamkeit eines Kindes wendet sich gerne dem zu, dem die Bezugsperson Bedeutung gibt.
Sobald sich Eltern, Lehrkräfte oder andere familiäre Bezugspersonen wohlwollend und hörend Kindern zuwenden und eine anregende sowie angstfreie Lernumgebung anbieten, schenken sie ein begabungsförderndes Ambiente für alle wissbegierigen und staunenden Kinder.
„Die Zukunft einer Nation beruht auf den Fähigkeiten ihrer Kinder;
die Bundesrepublik kann es sich nicht leisten,
die Begabtesten von Ihnen links liegen zu lassen.
Sie sind unsere bedeutendste natürliche Energiequelle.
Sie sind die geistigen Führer, Erfinder und Künstler von morgen,
aber sie brauchen heute Hilfe,
um sich selbst zum Wohle der Allgemeinheit verwirklichen zu können!“
(Unger, 1978)
Gesetzlicher Bildungsauftrag und schulische Begabungsförderung
Die Gesetzlichen Vorgaben zum schulischen Bildungsauftrag
Der Gesetzliche Bildungsauftrag entwickelt sich ausgehend vom Grundgesetz zum Bildungsauftrag der Begabungsförderung.
Im bundesdeutschen Grundgesetz ist geregelt, dass die Schulbildung und damit auch die Begabungsförderung unter Staatshoheit steht, jedoch als Ländersache definiert und vollzogen wird. Im Grundgesetz steht dazu in Artikel 7 Absatz (1)
Diese staatliche Auftragserteilung leitet sich vom Grundgesetz ab und steht in der Resolution 217 A (III) der Generalversammlung vom 10. Dezember 1948 in den Allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte Artikel 26 geschrieben und lautet im Absatz 1:
In Absatz 2 steht Weiterführendes
und Im Absatz 3 wird das Elternrecht ergänzt.
Gesetzliche Grundlagen zum schulischen Bildungsauftrag am Beispiel Bayern
Am Beispiel Bayern lässt sich sehr gut erkennen, dass die Begabungsförderung eindeutig und zukunftsweisend gesetzlich definiert und als offizieller Bildungsauftrag verankert ist. Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung und diese Bildung soll der vollen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit dienen. Als Beschluss der Kultusministerkonferenz am 10.12.2009 in Zustimmung von allen Bundesländern soll
dieser Bildungsauftrag in der gesamten Lernbiographie der Kinder und Jugendlichen vom Elementarbereich über die Primar- und Sekundarstufe hinaus bis in den Tertiärbereich umgesetzt werden.
Die konkrete Auftragserteilung für die Begabungsförderung lautet gemäß Drucksache 16/6554, S.1 vom 04.10.2007 wie folgt:
Im weiteren Verlauf dieser offiziellen Schriftsache wird auf die Maßnahmen zur Förderung der Begabungen Bezug genommen.
Die zu dieser Frage eingebrachten Gliederungspunkte – bezüglich Begabung wie z.B. unter Punkt 6 die Frage, auf welche Weise die einzelnen Bundesländer die Diagnosefähigkeit der Lehrkräfte in Hinsicht Hochbegabung sichern (Anm. d. Verf.) – fallen nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes in die Zuständigkeit der Länder.“ (Drucksache 16/6554, S.4 vom 04.10.2007).
Begabungsförderung als wichtige Aufgabe am Beispiel Bayern
Im Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 Art.1 steht unter (1) Folgendes zum Bildungs- und Erziehungsauftrag geschrieben.
Generell wird die Begabungsförderung in Bayern über folgende Paragraphen in der Verfassung des Freistaates Bayern in der Neubekanntmachung aus dem Jahre 1998 in Artikel 128, Absätze (1) und (2) festgelegt:
Diese in der Verfassung des Freistaates Bayern definierten Rahmenbedingungen werden im Bayerisches Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG) als Belehrung von Rechten und Pflichten in Artikel 56 weitergehend ausgeführt:
Im Speziellen wird für Bayern in 2011 dazu im Vorwort des schulartübergreifenden Leitfadens bestätigt, dass „Begabtenförderung eine wichtige Aufgabe des Bildungssystems ist.“
Seit dem Jahr 2001/2002 wird in Bayern mit der sukzessiven Einführung eines neuen Lehrplans für Grundschulen konkret auf die Situation der Begabungsförderung mit den Maßnahmen der Differenzierung, Inklusion und Individualisierung Bezug genommen.
Im Jahr 2004 wird dazu ein zukunftsweisendes Konzept erstellt, welches nicht nur die allgemeine Begabungsförderung, sondern auch zielgerichtet die spezielle Begabtenförderung anspricht (ISB, 2004):
Abschließend wird vom Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung ISB im Jahr 2011 in München der schulartübergreifende Leitfaden im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultur konkretisiert. Darin soll auch die spezielle Begabtenförderung mit der Formulierung vom Bayerischen Ministerrat im Vorwort, dass „Begabtenförderung zu einer wichtigen Aufgabe des Bildungssystems erklärt“ wird, als wesentlicher Bildungsauftrag etabliert werden.
Lernentwicklungsgespräche
In den Bundesländern seit 2011 (in Bayern erst seit 2014/2015) wurde zunehmend „alternativ bzw. auch statt benoteten Zwischenzeugnissen“ in der 1. Klasse die kindgerechten Lernentwicklungsgespräche eingeführt. Diese Lernentwicklungsgespräche sollen die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Kinder sowie Eltern bezüglich schulischer Erstleistungen erarbeiten und von der Lehrkraft als wegweisenden Leitfaden für Entwicklungs- und Veränderungsprozesse verschriftlicht werden. Auch diese Lernentwicklungsgespräche wollen neben zahlreichen weiteren begabungsfördernden Maßnahmen dem Gedanken der Begabungsförderung Rechnung tragen.
Schreiben nach Gehör
Schon in den 1990 Jahren wurde das von dem Schweizer Pädagogen Jürgen Reichen entwickelte „Schreiben nach Gehör“ den Schulen in Deutschland als reformierender bzw. begabungsfördernder Kontext versucht. Diese Maßnahme ist bis heute heftig umstritten, in einigen Bundesländern nicht angenommen und in anderen schon wieder abgeschafft. Dieser Versuch kreativer Förderung durch die Einführung einer Art „Kinderschreibweise mit Lesen durch Schreiben“ gegenüber der bisher in Deutschland erlernten „Erwachsenenschreibweise“ in der Grundschule hat sich als Begabungsförderung wenig fruchtbar gezeigt. Kinder haben dabei in den ersten Grundschuljahren die Möglichkeit alles Gehörte mit Hilfe von Anlauttabellen ohne Erlernen der Rechtschreibung niederzuschreiben, wobei weder Lehrer noch Eltern diese zu korrigieren hatten. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, vor Eintritt in die weiterführende Schulbildung, werden die Kinder auf eine „korrekte“ Schreibweise umgelernt. Vor allem irritierte Eltern und besonnene Lehrerverbände sowie eine wissenschaftliche Studie über die nachweislich langfristige schlechtere Rechtschreibfähigkeit der Schüler lassen dieses Projekt zunehmend ausklingen. Dies erwähnte auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, der forderte, die umstrittene Schreiblernmethode zu beenden, um „möglichst schnell weiteren Schaden von unseren Grundschulkindern abzuwenden“.
Digitalisierung als zeitgemäße Unterrichtsform im Lehr- und Lernbereich
Im September 2011 hat das Staatsministerium für Unterricht und Kultur das Projekt „Digitales Lernen Bayern“ konkretisiert, um den informations- und kommunikationstechnisch gestützten, also den digitalen Unterricht an bayerischen Schulen gezielt zu fördern. Dieses Ziel hat der damalige Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung „Bayern. Die Zukunft“ am 12. November 2013 aufgegriffen, indem er ankündigte, ein virtuelles Bildungsmedienzentrum einzurichten, die rund 6.100 bayerischen Schulen an ein zentrales Bildungsnetz anzubinden und damit die Medienkompetenz der bayerischen Schülerinnen und Schüler weiter auszubauen. Wobei gesetzlich nicht formuliert steht, ob dies im Rahmen und mit den finanziellen Mitteln der Begabungsförderung steht oder als zeitgemäß allgemeiner Bildungsauftrag zu verstehen ist.
Das Menschenbild und das Weltbild entscheiden über Begabungsdefinitionen
Das Verständnis von Begabung, Hochbegabung, Talent oder Exzellenz entwickelte sich kulturhistorisch im Laufe der letzten Jahrhunderte. Je nachdem welches zeitgemäße Menschenbild und jeweilige Weltbild etwas als „normal“ und „begabt“ definierte, wurden die entsprechenden Begabungstheorien erforscht und Definitionen wissenschaftlich anerkannt.
Von der ursprünglichsten Annahme, dass Begabte bzw. Hochbegabte diese Menschen zwischen Genie und Wahnsinn wären, weiterführend zum mystischen Glauben, dass ein Schöpfer den Menschen mit Begabungen versehen hat, veränderte sich die Sichtweise im Laufe der Zeit wie beispielhaft zur Begabungsdefinition als reine „Intelligenzmessung (IQ)“. Dieses diagnostische Instrument dient zur Messung der kognitiven Fähigkeiten. Mit dieser IQ Messung als Intelligenztest wird bis heute die „Dimension einer Hochbegabung“, auch in Schulen, genutzt, um weit über dem Durchschnitt liegende intellektuelle Fähigkeiten bei Kindern und Jugendlichen herauszufinden und nachzuweisen.
Sowohl dieser Intelligenztest wie auch andere diagnostische Testverfahren zur „Hochbegabung“ müssen jedoch als ein Konstrukt angesehen werden. Denn dadurch wird Intelligenz nur als das definiert, was der jeweilige Intelligenztest als Disposition messen oder auch zukunftsweisend prognostizieren kann. Deshalb sind andere Theorien, wie z.B. die Theorie der „multiplen Intelligenzen“ von Gardner von großer Bedeutung. Denn bei dieser werden – neben den z.B. mathematisch-logischen, naturwissenschaftlichen, sportlichen und musikalischen Begabungen – erstmals nicht rational messbare Begabungsgrößen wie soziale Kompetenz, außergewöhnliche Nächstenliebe wie emotionale Intelligenz usw. vorgestellt.
Die Vielfältigkeit an Begabungsmodellen und Theorien reicht heutzutage bis zur aktuellen „Nützlichkeitstheorie“, in der eine Begabung erst durch die Realisierung dieser Begabung als sinnvolles und nützliches Einbringen in die Gemeinschaft anerkannt werden soll. Dieser Begabungsdefinition liegt zugrunde, dass sich jegliche Begabung auch als bruttosozialproduktbezogener Faktor belegen lassen muss. Talentiertheit und Begabungen werden demnach erst in der sinnstiftenden Verwertbarkeit für die Gemeinschaft anerkannt.
Dies verweist auf den zeitgeschichtlichen Interpretationsspielraum, der ursprünglich „einzigartig gottgegebene Talente“ bis hin zu den heute von „Followern“ und „Likes“ erwählt und vermarkteten „gottähnlich begabten Talenten“, solange diese von der Gemeinschaft als solche interpretiert werden.
Anerkannte und faszinierende Definitionen von Begabung und Hochbegabung
Begabungen, Hochbegabungen und Talente zeigen sich in der Kindheit und Jugend selten durch ein selbsterklärendes bzw. messbares Talent mit der entsprechenden Leistungsfähigkeit. Sondern diese verweisen eher auf eine Disposition, das bedeutet man erkennt das Vorhandensein eines ungewöhnlich dimensionierten, altersunüblichen Potenzials. Zeitgeschichtlich bedingt stehen „das Erkennen und die Anerkennung“ der Begabung bzw. Hochbegabung dabei im direkten Zusammenhang mit dem jeweils aktuellen Menschenbild. Dieses bestimmt den Interpretationsspielraum für die jeweiligen gesellschaftlich anerkannten und wissenschaftlich erforschten Theorien der Begabungsdefinitionen. Gerne stelle ich Ihnen die nachfolgenden Definitionen vor, damit Sie für sich selbst prüfen können, ob diese Ihrer eigenen (bisherigen) Vorstellung von Begabung, Hochbegabung und Talentiertheit nahestehen.
Wie schon erwähnt wurde ursprünglich das Menschenbild und Weltbild noch als Gabe im Kontext eines weltschaffenden Handelns des Kreators im Sinne von Gott verstanden, wie es im Grundgesetz sowie in den Schulgesetzen noch ausdrücklich erwähnt steht. Egger schreibt dazu (2010)
dass dem Menschen als Kreatur die Kreativität als gegebenes Potenzial für den Lebensausdruck innewohnend ist. Diese einstig kulturgeschichtliche Auffassung wird durch den etymologischen Hintergrund von „Kreativität“ bis in die Gegenwart aufrechterhalten. Das begründet sich im lateinischen Wort „creare“ im Wortsinn von „(er)schaffen, erzeugen, gestalten, formen“ und bereichert sich verwandtschaftlich um das lateinische Wort „crescere“ im Wortsinn von „wachsen, entfalten, gedeihen, werden“.
Dazu besagt die Begabungsdefinition von Weigand (2011), dass in jedem Menschen als Gabe eine werthaltige Begabung im Sinne eines schöpferischen Potenzials ruht. Sie weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass diese Begabung – sicherlich unterschiedlichen Ausmaßes – eines zweiten Menschen bedarf, der diese Begabung dialogisch im Sinne einer Anregung von der Außenwelt ruft. Das verdeutlicht sie mit Ihrer Verständnisdefinition von Begabung.
Weigand, die im Personenprinzip „die Person“ als zentrale Mitte einer Begabungsförderung ansieht und Müller-Oppliger (2011), der im dialektischen Begabungsmodell immer auf den Brennpunkt „Menschenbild“ verweist, zeigen damit auf, wie sehr das Menschenbild und Weltbild mehr oder auch weniger begabungsfördernd wirksam werden können.
Dazu merken Stern und Neubauer (2007) an, dass zwischen Begabung und Talent unterschieden werden muss.
Trinz und Schulz (1999) formulieren Begabung in der Veröffentlichung von Albrecht.
Allabauer (2004) spricht dies in seinem dynamischen Begabungskonzept bereits an.
Renzulli (2001) bezieht mit seinem Satz:
den pädagogischen Ansatz der Begabungsförderung immer auf das Begabungspotenzial jedes Kindes, welches er zentral in den Mittelpunkt jeglicher Begabungsförderung stellt. Nach seinem Verständnis ruht eine Begabung als „Qualitätsmerkmal“ in der Gabe Menschsein bereits vom ersten Moment der „biologischen Menschwerdung“ an.
Stamm (1999) definiert Begabung als Potenzial und Interaktionsprodukt.
Die Formulierung von Mönks und Ypenburg (1998) bezüglich Hochbegabung ist selbsterklärend.
In der Nützlichkeitstheorie anerkennt Vogt (2010) das Fähigkeits-Potenzial eines Menschen, sieht jedoch Begabung als Nützlichkeitsfaktor an:
Natürlich stellen diese Definitionen nur eine kleine Auswahl von wissenschaftlich anerkannten Begabungsdefinitionen dar. Doch habe ich bewusst diese Auswahl getroffen, da ich mit diesem Menschenbild und Weltbild seit vielen Jahren begabte sowie hochbegabte Kinder und auch Erwachsene für ihre eigenen Talente begeistern und zu einem gelingenden – wenn nicht sogar beglückenden – Lebensausdruck ermutigen konnte.
Key Words der Begabungsförderung im schulischen Kontext
Erziehungsberechtigte Bezugspersonen, wie z.B. Eltern, werden in der Präsentation einer Schule mit dem jeweiligen Leitbild und in den entsprechenden Anschauungsbroschüren bzw. dem Internetauftritt erste Hinweise auf die Prioritäten von Lehr- und Lerninhalten finden. Neben den allgemeinen Beschreibungen der schulischen Ausrichtung sowie den schulischen Fachbereichen weisen begabungsfördernde Schulen gezielt auf den Schwerpunkt der Begabungsförderung bzw. Begabtenförderung hin, beispielhaft durch nachfolgende Begrifflichkeiten:
- Innere Differenzierung (z.B. unterschiedliche Lernangebote werden innerhalb einer Kleingruppe angeboten)
- Äußere Differenzierung (z.B. Kleingruppen von Schülern werden gezielt in unterschiedlichen Räumen nach unterschiedlichen Lehrzielen unterrichtet).
- Enrichment (z.B. Lehrinhalte können angereichert und vertieft von Schülern wahrgenommen werden)
- Akzeleration (z.B. die Möglichkeit einen Lernstoff in kürzerer Zeit zu absolvieren)
- Drehtürmodell (z.B. Schüler können phasenweise den regulären Unterricht verlassen und sich selbst intensiv mit dem interessanten Thema beschäftigen)
- Pull-Out-Programme (z.B. ermöglichen Begabten die Teilnahme an auswärtigen Zusatzangeboten oder auswärts durchgeführten Interessensangebote mit speziellen Themenschwerpunkten. In Pull-out Programmen werden begabte Schüler/innen außerhalb ihrer Stammklasse durch spezielle Angebote gefördert.)
- Contracting oder Compacting (z.B. als Lernvertrag, bei dem gemeinsam mit dem Schüler bzw. einer Schülergruppe Unterrichtsinhalte spezifisch gestaltet und gezielt Interessen sowie Methoden auf die Schüler abgestimmt werden)
Der Begriff Underachievement Im Verständnis von „Untererfüllung“ benennt bezüglich Begabungsförderung die „schulischen Minderleistungen“ von Kindern und Jugendlichen, die als beobachtete Schulleistung in anhaltender Diskrepanz zu dem Begabungspotenzial bzw. zu der erwarteten Leistungsfähigkeit liegen. In den Untersuchungen der letzten Jahre liegt die Schätzung von hochbegabten Kindern, die sich während ihren Schul- und Ausbildungszeiten als Underachiever etablieren, bei mehr als 50%. Untersuchungen dazu ergaben, dass die Mehrheit vor Schulbeginn getesteter Kinder, die eine Begabung oder sogar Hochbegabung aufwiesen, diese kurz nach Eintritt in weiterführende höhere Schulen – man vermutet aus Leistungsdruck/Stress und mangelnder Fokussierung – verloren hatten.
Hingegen sieht Stangl (2019) Overachiever als die Personen an, die unterschiedlichste Leistungen oberhalb ihres Potenzials erreichen. Damit erscheinen sie erfolgreicher, als man es nach beispielhaft einem Intelligenztest oder anderen messbaren Begabungskriterien vermuten würde. Deshalb werden diese Kinder und Jugendliche als sogenannte „Übererfüller“ im schulischen Kontext nicht nur als begabt, sondern auch hochbegabt eingeschätzt, was oftmals nicht der messbaren Faktenlage entspricht. Denn diese Overachiever-Leistungen kommen weniger durch einen hohen Intelligenzquotienten zustande, sondern durch das Vorhandensein z. B. phantasievoller Kreativität, emotionaler Intelligenz, praktischer Intelligenz oder auch durch hartes Training und besonderen Fleiß. Eine Studie (Lechner et al., 2019) zeigt: … dass jene SchülerInnen die höchsten Lernerfolge dann erzielen, wenn sie sowohl intelligent als auch interessiert sind, d. h., Intelligenz und Interesse befördern einander. Dabei erzielen jene SchülerInnen die besten Lernerfolge, die besonders intelligent sind, aber auch diejenigen, die besonders interessiert sind“ (Stangl, 2019).
Begabungsfördernde Aspekte der Lernforschung und Entwicklungspsychologie
Im Kindergarten, aber auch in gesunden Familien, ist ein umgreifendes Verständnis für die Lernentwicklung vom Kleinkind zum Schulkind vorhanden. Diese kann sehr gefördert werden, indem der natürlichen Forderung des Kindes nach einem „spielerischen“ Bewegungsspiel Raum und Zeit gegeben wird. Denn ein Kind tritt durch die Bewegung in den Dialog mit der Umwelt ein und erfährt dadurch – auch – Begabungsförderung.
Nur werden seiner Meinung nach in unserem Kulturkreis bestimmte Begabungen als angesehener bzw. wichtiger erachtet als andere. Zudem spricht er davon, dass jeder Mensch von Kindheit an aufgrund des biographischen Vorwissens eine andere mentale Landkarte im Gehirn entwickelt. Dadurch kommt die Vielfalt an aktiven sowie reaktiven Ausdrucksformen schon in der Kindergartenzeit zur Geltung und sollte wesensgemäß gefördert werden.
In den Publikationen von Zimmer (2001) wird beschrieben, dass Kinder generell durch Bewegung und der Wahrnehmung bzw. Bewusstwerdung dieser lernen. Zunächst bauen Kinder die Fähigkeit zur Raum- Lage- Wahrnehmung über die Bewegung und den eigenen Körper auf und gewinnen damit durch den eigenen Körper die ersten Lernerfolge. Denn Bewegung wird als der Motor und Vermittler des Lernens angesehen. Zusätzlich formuliert Zimmer (2017), dass Bewegung die geistige Arbeit und Konzentration unterstützt und erst so den Kindern die Möglichkeit schenkt, sich die Umwelt mit allen Sinnen begreifbar und erfahrbar zu machen.
Um sich gesund entwickeln zu können, brauchen Kinder tägliche Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten, bei denen sie alle Sinne einsetzen und ihren Körper in den unterschiedlichsten Bewegungsabläufen erfahren. Zudem bedürfen Kinder eines gut ausgebildeten Wahrnehmungsvermögens, um sich einerseits mit der Welt auseinandersetzen und andererseits die eigene Innenwelt mit der zu erobernden Außenwelt verbinden zu können.
Diese nicht-lineare sondern immer ganzheitlich formgebende und gleichzeitig auf alles einflussnehmende Kraftwirkung, die vorangehend bereits als Ontogenese des Embryos beschrieben wurde, bestätigt sich auch in der neueren Sprach- und Lernforschung.
Das bestätigt sich als Erfahrungswissen, wenn man hungrige, müde oder ängstliche Kinder beim Lernen beobachtet.
Gardner (1991) hat diesen Umstand zentral postuliert, dass etwas nur dann wirklich gelernt und begreifbar wird, wenn wir es auch wirklich begreifen bzw. angreifen:
„Wissen Sie es nur, oder begreifen Sie es wirklich?“
Nur wenn beide Pole, sowohl das eigene Wachstum als auch die familiäre Zugehörigkeit berücksichtigt sind, herrscht im Gehirn aufgrund dieser Stressfreiheit eine optimale Lernbereitschaft. Damit erfährt sich das Kind zunehmend selbst als Verursacher einer Veränderung, z.B. wenn ein Kind beim Radfahren bremst und die Geschwindigkeit verändert, abspringt usw. So lernt es seine Beziehungsvielfalt zur Welt zu erkennen und zu begreifen sowie ursächlich zu nutzen.
Deshalb ist es besser, wenn Kinder zappelig sind oder nicht ruhig sitzen können, dass ihrem Bewegungsdrang Raum gegeben wird und sie sich bewegen dürfen.
Auch für forschendes und lernwilliges Handeln benötigen Schulkinder Greif- und Bewegungshandlungen. Dinge, die ganz selbstverständlich erscheinen, lernen Kinder erst dann, wenn ihnen diese Phänomene auch bewusst geworden sind. Zum Beispiel erkennt ein Kind irgendwann, dass es leichter ist das Gleichgewicht zu halten, wenn es die Arme ausstreckt.
Auf diese Phänomene werden Kinder in der Begabungsförderung, auch schon im Kindergarten, bewusst aufmerksam gemacht. So formen die Kinder aus ihren dabei gemachten Erfahrungen ihre individuellen Hypothesen, Theorien und Glaubenssätze. Zum Beispiel, wenn man einen Stein flach auf das Wasser schleudert, schlägt dieser manchmal noch zwei bis drei Mal auf, bevor dieser untergeht. Auch, dass Holz im Wasser schwimmen kann oder sich der Tau morgens im Gras finden lässt, regt Kinder zur kognitiven Reifung an. Erst wenn Kinder physikalische Gesetzmäßigkeiten am eigenen Leib erfahren und direkt ihre korrekten Rückschlüsse ziehen können, wie zum Beispiel Bremskräfte wirken oder Steine am Weg zum Stolpern führen, können diese umfassende Lernprozesse mühelos verinnerlichen. Begabende Bezugspersonen nehmen in der Begleitung dieser Kinder eine interessierte, offene und dialogbereite Haltung ein.
In der Gehirnforschung wurde demgemäß nachgewiesen, dass jegliches Lernen in der Konfrontation mit etwas Unbekanntem im Menschen einen „Erregungszustand“ auslöst, der das zelluläre Aktionspotenzial aktiviert, um auf gegebenenfalls erforderliche Handlungen vorbereitet zu sein. Dabei nehmen Sinnesorgane neutrale Reize wahr und auf und leiten diese zur Reizsignalverarbeitung an das Gehirn weiter. Dort findet der kognitive Abgleich von bekanntem Vorwissen mit dem Neuen unter gleichzeitiger, affektiver Interpretation des zu Lernenden statt. Deshalb lernt jeder Schüler immer auch den gefühlsmäßigen Gesamtzusammenhang mit, auch die Gestimmtheit und Sichtweise seiner Lehrkraft.
Das führt zu einem gesamtkörperlichen Geschehen (durch Mobilisation über den Sympathikus) als Steuerung des autonomen Nervensystems, wie im Falle der Ausschüttung von Stresshormonen in der Nebennierenrinde, Erhöhung der Herzfrequenz und des Blutzuckerspiegels, Verlangsamung der Verdauung, Weitung der Pupillen, um nur einige biologische Reaktionen zu nennen.
Reaktionen, die durch solche subjektive, gedankliche Interpretation und gefühlsmäßige Erlebnisqualität auf äußere neutrale Reize entstehen, beschreibt Murphy (1995) sowohl bei Lernenden als auch bei Lehrenden als Priming. Dies trifft sowohl auf bewusst geführte Selbstgespräche oder Versagensängste zu wie auch auf automatisierte unbewusste.
Kinder brauchen deshalb eine wertschätzende und entspannte soziale Interaktion, neben der anregenden Lernumgebung, um komplexe Lernvorgänge durchführen zu können. Wesentlich dabei ist die soziale und familiäre Zugehörigkeit, die Hüther (2009) mit der Formulierung einer „ressourcenorientierten Beziehungskultur“ umschreibt.
Auch die an der Universität Birmingham erbrachten Forschungserkenntnisse zur unterschiedlichen Wahrnehmung bei Linkshändigkeit gegenüber rechtshändigen Menschen spielt in der Begabungsförderung eine wesentliche Rolle. Lesen Sie dazu gerne mehr.
Lehr- und Lernsetting mit begabenden Lehrkräften
Im Schulunterricht, der über viele Jahre einen wichtigen Faktor für die Entwicklung von Kindern darstellt, steht der Schulleitung, dem Elternbeirat und vor allem dem Lehrkörper eine maßgebliche Bedeutung zu. Konkret geht Roth (2009) auf fünf Faktoren ein, die er in einem Lehr-Lernsetting neurodidaktisch für wichtig und begabungsfördernd hält:
- Glaubhaftigkeit der lehrenden Bezugsperson für individuelle kognitive und emotionale Lernvoraussetzungen des Schülers
- allgemeine Motiviertheit und Lernbereitschaft
- aktuelles Vorwissen
- emotionaler Zustand des Schülers
- sowie spezifischer Lehr-Lernkontext
Denn die moderne Gedächtnisforschung zeigt auf, dass bei jedem gelernten Inhalt immer mitgelernt wird, wer den Inhalt wie vermittelt (Quellengedächtnis) und wo sowie wann das Lernen erlebt wurde (Orts- und Zeitgedächtnis).
Auf diese Bedeutung einer Lehrkraft zur Durchführung eines begabungsfördernden Unterrichts nehmen die Autoren Perleth und Runow (2008) in der „Wunschlehrerstudie“ Bezug. Das Ergebnis dieser Studie zeigt, dass sowohl durchschnittlich begabte und mehr noch hochbegabte Kinder in der Schule neben ihren eigenen Wünschen auch von der Persönlichkeit der Lehrkraft möglicherweise sogar entscheidend beeinflusst werden. Je nachdem wie Schüler Ihre Lehrkraft wahrnehmen und ob sie den Eindruck gewinnen, dass sie um ihretwillen in ihren Fähigkeiten und Interessen angesprochen und gefördert werden, beeinflusst signifikant die Lernbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Schüler.
Das assoziieren auch die wissenschaftlichen Belege zum Rosenthal-Effekt. Dieser zeigt auf, dass die Erwartungen einer Bezugsperson, auch einer Lehrkraft oder eines Versuchsleiters maßgeblich das Ergebnis eines Experimentes bzw. einer Schulleistung mitbeeinflussen. Man machte ein Experiment mit einer völlig normalen Schulklasse und wählte beliebige Schüler aus, um diesen eine Hochbegabung anzudichten. Zu Beginn des neuen Jahres wurde nur wenigen Klassenlehrern mitgeteilt, dass diese ausgewählten Schüler aufgrund einer Testung in der Sommerpause sich als Hochbegabte herausgestellt hätten, was natürlich nicht der Fall war. Am Ende des Schuljahres wurden alle diese ausgewählten – angeblich hochbegabten – Schüler von nur den Lehrern, denen diese Mitteilung ganz geheim gegeben worden war, mit bis zu 3 Noten besser bewertet als im Schuljahr davor.
Wissenschaftlich wird dies praxisbezogen im Kontext einer Schulsituation belegt und berichtet, dass SchülerInnen im Rahmen von naturwissenschaftlichen Experimenten im Klassenunterricht auf die Frage der Lehrkraft „was siehst du?“, phantastische Beobachtungen beschrieben. Diese wurden jedoch von der Lehrkraft als nebensächliche und gestaltlose Elemente bezeichnet. Die Lehrkraft hatte nach den wesentlichen Merkmalen ihres Experimentes Ausschau gehalten, weshalb andere, auch außergewöhnliche Beobachtungen, für sie ohne Bedeutung waren; ja sogar als Verfehlung des Lernzieles gedeutet wurden. Da die Schüler und die SchülerInnen jedoch weder das geforderte Lernziel wussten noch gesagt bekommen hatten, nach welchem Ergebnis sie Ausschau halten sollten, sahen sie nur das und hielten nur nach DEM Ausschau, was für sie selbst in dieser Situation aktuell von Interesse oder Bedeutung war.
Damit wird präzise umrissen, dass der aktive Wissenserwerb nur dann bildhafte Gestalt annehmen und sprachlich wiedergegeben werden kann, wenn den SchülerInnen zuvor die wesentlichen Bezugspunkte, die Konturierung der Thematik bzw. die Schwerpunksetzung der Lehrkraft, was es zu wissen, zu sehen, zu erkennen gilt, als Zielvorgabe für den Lerninhalt zur Verfügung steht. Erst das bewusste Wissen, welches Ziel es zu erreichen gilt, ermöglicht eine fokussierte und zielgerichtete Wahrnehmung für sowohl erzieherische wie auch schulische Lernprozesse.
In Referenz auf Fleck (1983), dass man zuerst lernen muss zu schauen, um dann wahrnehmen und sehen zu können, konstituiert sich eine mögliche gemeinsame Welt von Lehrkräften und SchülerInnenschaft durch die sinnstiftende, gemeinsame Ausrichtung. Diese kann als Lehr- und Lern-Wirklichkeit empfunden werden und begabungsfördernd wirken, wenn das einzelne Lern-Wachstum des Kindes einerseits und Zugehörigkeit im Gemeinschaftserleben andererseits von der Lehrkraft als Setting gelebt werden.
Der ganzheitliche Lernvorgang wird von Arnold (2009) in vier verschiedene Stadien eingeteilt, die bei Hochbegabten in ihrem konkreten Wissensinteresse wie bereits vorhanden bzw. wie selbstverständlich ablaufen. Diese vier Stufen beinhalten erstens die konkrete Erfahrung, der reflexiven Beobachtung, dann die innerliche Bildung einer abstrakten Hypothese und anschließend die aktive Überprüfung durch Übertragung und Anwendung. Sie erkennt die konkrete Umsetzung und Anwendung als einen Teil des Lernprozesses, wodurch sich der ganzheitliche Lernvorgang erst vollenden kann.
So wurde in den Forschungsergebnissen aufgezeigt, dass die jeweilige Sichtweise einer Lehrperson einerseits über sich selbst (ob sich diese Lehrperson als fördernd, liebenswert und somit begabend ansieht), und andererseits die Deutung eines Schülers (ob er/sie sich für klug oder dumm, angenehm oder störend, unbegabt oder begabt hält) maßgeblich auf das Gemeinschaftserleben in der Klasse als auch auf die jeweiligen Schülerergebnisse bis hin zur Notengebung Einfluss haben.
So wünsche ich Ihnen und Ihren Kindern, dass die Flut begeisternder Lebensfreude familiär hochsteigt und alle Schiffe im Sonnenlicht sichtbar werden. Bei Interesse wenden Sie sich mit einem Terminwunsch gerne an mich: info@fraumann.eu
© Frau Mann M.A.